Soll es tatsächlich so sein, dass die Absorption von Wasser bei einer oral verabreichten wässrigen Simethiconlösung zur Behandlung von Bauchschmerzen aufgrund der Klassifizierungsregel 21 automatisch in die gleiche Risikoklasse III eingestuft wird und die gleichen Nachweise liefern muss wie ein implantierter Herzschrittmacher? Wie soll der Äquivalenzansatz in der Praxis umgesetzt werden, der definiert, ob bekannte Daten aus Studien anderer, äquivalenter Medizinprodukte genutzt werden können oder eigene klinische Prüfungen durchzuführen sind? Diese Fragen sind aktuell noch völlig offen.
Aus meiner Sicht werden die neuen Aufgaben für stoffliche Medizinprodukte, etwa das Vorhalten eines kompletten Qualitätsmanagementsystems, dazu führen, dass einige etablierte Produkte aus dem Markt ausscheiden und dass die verbleibenden Produkte teurer werden. Unternehmen werden ihre Produktportfolios analysieren und priorisieren müssen: Welche Kompetenzen sind im Unternehmen vorhanden, wo ist externe Hilfe erforderlich? Diese Einschätzung teilte auch Dr. William Shang von Johnson & Johnson. Er erwartet erhebliche Konsequenzen und Mehraufwendungen für Unternehmen durch die höhere Risikoeinstufung vieler Medizinprodukte.
Jörg Wilke von der ecm-Zertifizierungsgesellschaft für Medizinprodukte in Europa erwartet einen weiteren Rückgang der Zahl der Benannten Stellen, die noch stoffliche Medizinprodukte zertifizieren werden. Es sei nicht auszuschließen, dass es bei den notwendigen erstmaligen oder Re-Zertifizierungen zu Engpässen kommen werde.
Definitiv aus dem Geltungsbereich der Medizinprodukte fallen Produkte mit biologischen Inhaltsstoffen, beispielsweise Lactobacillen zur Behandlung von Vaginalbeschwerden. Sie sollen künftig dem Arzneimittelrecht unterstehen, können aber dessen Zulassungsanforderungen aus formalen Gründen kaum erfüllen – und das, obwohl sie nachweislich wirksam und sicher sind. Es stellt sich also die Frage, wie wir Millionen von Verbrauchern helfen können, falls diese Produkte künftig wegfallen sollten? Hier ist die Politik dringend gefordert.
Und noch an zwei anderen Stellen ist die Politik gefordert: Mit der neuen Medizinprodukte-Verordnung ist der New Approach der Produktregulierung weitgehend erhalten geblieben: Statt einer langwierigen behördlichen Zulassung durchlaufen die Medizinprodukte auch weiterhin ein sogenanntes Konformitätsbewertungsverfahren und dürfen dann europaweit in den Verkehr gebracht werden. Wir werden erstens genau beobachten müssen, ob die EU-Kommission, die mit der neuen Verordnung zu sogenannten Auslegungsentscheidungen ermächtigt wird, ihre neue Macht sinnvoll anwendet – oder ob sie das sogenannte Scrutiny-Verfahren der Überwachung von Hochrisikoprodukten künftig auf immer neue Produkte ausweiten will. Zweitens muss die Politik sicherstellen, dass die Mitgliedsstaaten nicht doch ein „verdecktes Zulassungsverfahren“ einführen, indem die nationalen Behörden, die solche klinischen Prüfungen genehmigen müssen, an die Hersteller zusätzliche Anforderungen herantragen, die von der Medizinprodukte-Verordnung nicht gedeckt sind.
Die Zukunft der stofflichen Medizinprodukte ist also gesichert – aber eben nur grundsätzlich. Für Hersteller fängt die Arbeit erst an.