Der Selbstmedikationsmarkt ist von hoher Bedeutung – nicht nur für den Verbraucher, sondern auch für das gesetzliche Versorgungssystem insgesamt. Die Produkte ermöglichen dem Patienten eine unmittelbare, schnelle und effektive Abhilfe bei akut auftretenden Krankheitszuständen und stellen Hilfsmittel zur Krankheits-Prophylaxe und Gesunderhaltung im Alltag dar. Im Bereich der Selbstmedikation ist der Patient als Verbraucher anzusehen, der frei und selbstverantwortlich seine Produktwahl trifft – dabei freilich auch durch Werbeaussagen (Claims) beeinflusst werden kann. Die Kosten seiner Medikation trägt der Verbraucher dabei selbst. Dies führt bei pharmazeutischen Unternehmen zu einem starken Preisdruck sowie zu deutlich geringeren Margen als im verschreibungspflichtigen Sektor.
Der Selbstmedikationsmarkt unterliegt einem starken wettbewerblichen Druck und ist vollständig abhängig vom Kaufverhalten des Verbrauchers – die Produkte sind trendgesteuert und verfügen über deutlich kürzere Produktlebenszyklen als im verschreibungspflichtigen Segment. Außerdem entstehen im Selbstmedikationsmarkt regelmäßig neue Schwerpunkte, z.B. im Bereich der Dermatologie (Neurodermitis) oder im Magen-Darm-Bereich (Slimming-Produkte). Indikationsgebiete, die noch vor wenigen Jahren kein oder kaum Bestandteil der Selbstmedikation waren, sind heute selbstverständlich.
Die Voraussetzungen für ein erfolgreiches und zielführendes Marketing- und Vertriebskonzept von Gesundheitsmitteln sind dementsprechend breit gestreut:
Dies bedeutet: Um langfristig kommerziellen Erfolg zu sichern, müssen Produkte in einem Gesundheitsmittelportfolio über eine mittelbis langfristig gesicherte Verkehrsfähigkeit mit einem zielführenden Claim in der spezifischen Produktkategorie verfügen.
Over-The-Counter-Arzneimittel sind Arzneimittel zum Zwecke der Selbstmedikation. Sie enthalten etablierte Wirkstoffe, gleichgültig ob pflanzlicher oder chemisch-synthetischer Natur. Sie haben sich in der Praxis über viele Jahre der Vermarktung als sicher und unbedenklich herausgestellt und sind somit aus Sicht des Gesetzgebers für eine Abgabe ohne ärztliche Verordnung nachweislich geeignet. Durch den gesicherten Status des Arzneimittels weisen die Produkte einen hohen Unbedenklichkeits- sowie Qualitätsstandard auf.
Aus regulatorischer Sicht besteht im Rahmen des Arzneimittel-Zulassungsverfahrens, gleichgültig ob national oder EU-weit, hinsichtlich der gestellten Anforderungen an Wirksamkeit, Unbedenklichkeit und Qualität kein Unterschied zwischen den verschreibungspflichtigen und OTCArzneimitteln. Im Rahmen von Zulassungsverfahren für OTC-Arzneimittel gemäß der Richtlinie 2001/83/EG müssen pharmazeutische Unternehmen beispielsweise den gleichen Unterlagen-Standard in Bezug auf klinische Daten erfüllen wie für verschreibungspflichtige Arzneimittel, auch wenn die Produkte etablierte Wirkstoffe mit einer langjährigen Anwendungshistorie und einem niedrigen Risikoprofil enthalten. Darüber hinaus unterliegen sie den gleichen herstellungstechnischen Anforderungen (Produktion nach GMP-Standards) und Pharmakovigilanz-Reglementierungen wie verschreibungspflichtige Arzneimittel. Eine hohe Qualität und Sicherheit der OTC-Arzneimittel ist damit sichergestellt.
Primär fokussiert sich die Arzneimittel-Gesetzgebung auf den sog. Rx-Bereich, sodass das OTC-Segment und seine Besonderheiten hier häufig nicht ausreichend berücksichtigt werden. Diese hoch angesetzten Rahmenbedingungen und somit der erschwerte Marktzugang für OTC-Arzneimittel wirken sich nicht nur auf die Entwicklung neuer OTC-Produkte hinderlich aus, sondern stellen für pharmazeutische Unternehmen auch große Hürden bei der Führung und Aufrechterhaltung starker etablierter OTC-Marken dar.
a) Nahrungsergänzungsmittel
„Nahrungsergänzungsmittel“ ergänzen die allgemeine Ernährung. Der ernährungsspezifische Effekt der enthaltenen Stoffe dient der Unterstützung der normalen Gesundheit und Funktion des Körpers. Nahrungsergänzungsmittel sind Produkte, die in Ihrer Darreichungsform (Kapseln, Tabletten, Pulver) den Arzneimitteln ähneln, aber aufgrund ihrer Zweckbestimmung und der damit verbundenen Zusammensetzung dem Lebensmittelrecht unterliegen. Geregelt sind die Vorgaben für diese Produkte in Deutschland in der Nahrungsergänzungsmittelverordnung vom 24. Mai 2004. Die Grundlage hierfür ist die Richtlinie 2002/46/EG.
Nahrungsergänzungsmittel müssen im Gegensatz zum Arzneimittel vor dem Inverkehrbringen keinen behördlichen Genehmigungsprozess durchlaufen; eine Anzeige beim Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit reicht aus. Dieser „vereinfachte“ Marktzugang erhöht die Attraktivität dieser Produktkategorie zusätzlich. Die Verantwortung für die Sicherheit und Konformität mit den lebensmittelrechtlichen Vorschriften liegt allein beim Hersteller bzw. beim Inverkehrbringer.
Die Zielgruppe der Nahrungsergänzungsmittel ergibt sich aus dem Passus der EG-Richtlinie, „die normale Ernährung zu ergänzen“. Gemeint sind an erster Stelle die gesunden Erwachsenen. Aus dieser Zielgruppe leiten sich die Möglichkeiten und Grenzen der Produktzusammensetzung und der Auslobung von Nahrungsergänzungsmitteln ab. Die Dosierungen sind z.T. unterhalb der arzneilichen Dosierung, die angestrebte Funktion ist ernährungsspezifisch oder physiologisch und durch wissenschaftliche Daten zu belegen. Die Auslobung dieser Substanzen ist auf die „Gesunderhaltung“ ausgerichtet und angepasst.
Die Produktzusammensetzung ist für Nahrungsergänzungsmittel nicht immer einfach zu bestimmen. Traditionelle Arzneistoffe wie Acetylcystein, Ginkgoblätterextrakt, Bromelain, Glucosamin, Melatonin, Enzyme, oder Chondroitin werden inzwischen in der EU auch in Nahrungsergänzungsmitteln vertrieben. Die Zulässigkeit solcher Stoffe ist jedoch nicht immer klar definiert und beschäftigt zunehmend die Gerichte. So hat der Bundesgerichtshof 2010 festgestellt, dass das im deutschen Zusatzstoffrecht geltende Verbot des Inverkehrbringens von Lebensmitteln, denen nach deutscher Sicht den Zusatzstoffen gleichgestellte Stoffe zugefügt wurden, mit europäischem Recht nicht vereinbar ist. Wie sich dieses Urteil in der Praxis auswirken wird, ist noch nicht abzusehen.
Eine weitere Rolle in der Produktzusammensetzung wird die Entwicklung der zulässigen gesundheitsbezogenen Aussagen durch die Umsetzung der Verordnung (EG) Nr. 1924/2006 über nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben über Lebensmittel (Health Claims Verordnung (HCV)) spielen. Die Richtlinie für Nahrungsergänzungsmittel (2002/46/EG) gibt in Art. 6 vor: „Die Kennzeichnung, die Aufmachung und die Werbung dürfen Nahrungsergänzungsmitteln keine Eigenschaften zuschreiben, die der Verhütung, Behandlung oder Heilung einer Humanerkrankung dienen, und dürfen auch nicht auf solche Eigenschaften hinweisen.“ Dies, zusammen mit der Health Claims Verordnung, ist die Grundlage für die Auslobungsmöglichkeiten.
Bisher gibt es von der European Food Safety Authority (EFSA) veröffentlichte Stellungnahmen mit vorgeschlagenen Claims zur allgemeinen Gesunderhaltung (Art. 13 HCV) zu Vitaminen und Mineralstoffen, die aber von der Europäischen Kommission noch nicht in geltendes Recht umgesetzt worden sind. Die Mehrzahl dieser von der EFSA vorgeschlagenen Wortlaute für die positiv bewerteten „allgemeinen“ Health Claims formuliert „eine Unterstützung der normalen Funktion von ...“.
Demgegenüber gibt es bereits von der Europäischen Kommission über entsprechende Verordnungen erlassene rechtlich zulässige Angaben über die Verringerung eines Krankheitsrisikos sowie Angaben über die Entwicklung und die Gesundheit von Kindern (Art. 14 HCV). Ist eine Angabe (z. B. Werbeaussage) nicht zugelassen, darf sie nicht verwendet werden. Es gilt ein Verbotsprinzip mit Erlaubnisvorbehalt: Zulässig ist nur, was durch anerkannte wissenschaftliche Erkenntnisse nachgewiesen ist. Die EU-Kommission, die für die Erstellung der Verordnungen mit den entsprechenden Aussagen zuständig ist, bedient sich der EFSA für die wissenschaftliche Bewertung. Auf der Grundlage der von der EFSA erstellten Stellungnahmen erarbeitet die EU-Kommission dann die rechtsgültigen Verordnungen. Bisher sind die Claims zur allgemeinen Gesunderhaltung z.B. zu Vitaminen und Mineralstoffen von der EFSA bewertet. Andere Stoffe sind bisher nur zum Teil bewertet, eine ganze Reihe beantragter Claims ist noch offen. Wann die beantragten Claims abschließend bearbeitet werden, ist ungewiss. Damit gibt es weiterhin keine vollständige Rechtssicherheit auf diesem Gebiet.
b) Medizinprodukte
Eine weitere alternative Produktkategorie zum OTC-Arzneimittel stellt auf dem Gesundheitsmittelmarkt in vielen Bereichen auch der Status des Medizinproduktes dar. Obwohl es sich bei arzneimittelnahen Medizinprodukten um einen relativ jungen Markt handelt, bietet er durch seine von Anfang an konsequent harmonisierte europäische Rechtsgrundlage (Richtlinie 93/42/EWG) einen Vorteil gegenüber anderen Produktkategorien. Medizinprodukte sind medizinisch wirksame Produkte mit einer überwiegend physikalischen Wirkungsweise zur Anwendung im oder am Menschen. Der Wirkmechanismus stellt auch das wesentliche Abgrenzungskriterium zum Arzneimittel dar.
Entscheidend für die Einstufung als Medizinprodukt ist – im Gegensatz zur Kategorisierung von Arzneimitteln – die subjektive, d.h. die vom Hersteller beigegebene Zweckbestimmung. Selbstverständlich hat die beanspruchte Zweckbestimmung auf dem anerkannten wissenschaftlichen Stand zum Mechanismus und ausreichenden klinischen Belegen zu fußen. Ein Beispiel: Milchsäurebakterien, die vom Hersteller überwiegend dazu bestimmt sind, den pH-Wert am Ort der Applikation (z.B. lokal an der Vaginalschleimhaut) zu verändern, können als Medizinprodukt in Betracht kommen, während Milchsäurebakterien, denen eine wesentliche Wirkung auf das Immunsystem beigegeben wird, als Arzneimittel einzustufen wären.
Als Folge der beschriebenen hohen Anforderungen an OTC-Arzneimittel findet eine zunehmend zu beobachtende Abwanderung in andere Produktkategorien statt. Im Bereich der Produktentwicklung fokussieren sich pharmazeutische Unternehmen von vornherein auf andere Verkehrsfähigkeiten. Dabei spielen Faktoren wie der EU-weite Marktzugang (Medizinprodukte), ein schnellerer Marktzugang oder Claims, die durchaus vergleichbar aussagekräftig sind wie die bei OTC-Arzneimitteln (Nahrungsergänzungsmittel, Kosmetika) eine große Rolle. Um hinderlichen und ökonomisch ungünstigen Marktbedingungen seitens des Gesetzgebers und der Überwachungsbehörden zu entgehen, suchen gerade kleine und mittlere Unternehmen nach Alternativen im Nicht-Arzneimittel-Bereich, um ihre Produkte zu vermarkten. Dabei besteht eine Vielzahl an möglichen Vermarktungsstrategien, auf die OTC-Anbieter zurückgreifen können, um ein häufig sehr zeit- und kostenintensives Arzneimittelzulassungsverfahren zu umgehen. Daraus resultieren häufig Strategien wie die Borderline-Vermarktung von OTC-Produkten als Medizinprodukte, Lebensmittel, Kosmetika etc.
Für den Verbraucher ist diese Entwicklung nicht immer augenscheinlich. Die bekannten Vitamin- oder Mineralprodukte der großen Hersteller werden auch weiterhin exklusiv in der Apotheke abgegeben; auch ähnelt sich die Aufmachung der Produkte. Nur dem Fachmann fällt auf, dass aus einem apothekenpflichtigen Arzneimittel ein Nahrungsergänzungsmittel geworden ist. Die Produktausrichtungen sind nicht mehr auf die Heilung von Krankheiten bezogen, sondern auf die „Unterstützung der normalen Funktion“.
Auch Medizinprodukte substituieren inzwischen häufig Arzneimittel. Dies ist gemäß der Richtlinie 93/42/EWG dann möglich, wenn deren bestimmungsgemäße Hauptwirkung im oder am Körper weder pharmakologisch noch immunologisch oder metabolisch erreicht wird. So fallen z.B. Simethicon-Produkte darunter, da sie rein physikalisch wirken. Aber auch einige Produkte der photodynamischen Therapie, die zur Zerstörung von Tumorzellen eingesetzt werden, tragen mittlerweile ein CE-Zeichen und werden als Medizinprodukte in Verkehr gebracht: Der Wirkmechanismus, Tumorzellen mit Hilfe von Singulett-Sauerstoff zu schädigen – der entsteht, wenn das Produkt im Körper des Patienten mit energiereichem Licht bestrahlt wird –, ist nach Auffassung des Herstellers und der zuständigen Zertifizierungsstelle ebenfalls rein physikalischer Natur. Der Status solcher Produkte wird derzeit häufig erst nach jahrelangem Streit vor Gericht geklärt.
Die Gesetzgeber innerhalb der EU sollten sich angesichts dieser Entwicklungen im Selbstmedikationsmarkt zum Handeln aufgefordert sehen: Für die Nahrungsergänzungsmittel wäre eine vom normalen Lebensmittel stärker differenzierende Ausgestaltung der europäischen Richtlinie für Nahrungsergänzungsmittel (2002/46/EG) eine geeignete Grundlage, um auf der Seite der Lebensmittel bei arzneimittelähnlichen Gesundheitsmittel mehr Rechtssicherheit zu schaffen. Da die Produktkategorie der Nahrungsergänzungsmittel im Wirkungsbereich der Health Claims Verordnung sowohl aus ökonomischer als auch aus gesetzgeberischer Sicht eine eher untergeordnete Rolle spielt, können nur Sonderregelungen im Sinne von Ausnahmevorschriften den komplizierten Bedürfnissen der Nahrungsergänzungsmittel gerecht werden. ähnlich wie es für spezielle diätetische Ansprüche in der EU-Richtlinie geregelt wurde, könnten besondere Ausnahmeregelungen z.B. im Bereich der Health Claims in der für Nahrungsergänzungsmittel geltenden Richtlinie verankert werden.
Zwischen OTC- und verschreibungspflichtigen Arzneimitteln sollte nicht nur in der Vermarktungspraxis, sondern bereits im Zulassungsverfahren entsprechend der Eigenschaften dieser Produkte differenziert werden, sodass sich ein angemessener Standard für etablierte, gut dokumentierte und sichere OTC-Wirkstoffe bildet. Entsprechende Arzneimittelzulassungen sollten mit weniger Zeit- und Kostenaufwand realisierbar und Anforderungen innerhalb der Zulassungsverfahren leichter umsetzbar sein.
Als Vorbild könnte dabei die Traditional Herbal Medicinal Products Directive (THMPD; Richtlinie 2004/24/EC) dienen. Dabei handelt es sich um ein vereinfachtes Registrierungsverfahren für traditionelle pflanzliche Arzneimittel, die ein gut dokumentiertes Sicherheitsprofil und eine traditionelle Anwendung in dem angestrebten Indikationsfeld von mindestens 30 Jahren – davon mindestens 15 innerhalb der EU – vorweisen können. Die langjährige traditionelle Verwendung dieser Arzneimittel und die Sicherheit in der Anwendung wird durch entsprechende Nachweise belegt. Die Gesamtzahl von EU-weit mittlerweile ca. 500 erteilten Registrierungen seit Einführung der Richtlinie belegt ihren Erfolg.
Die THMPD bietet ein vereinfachtes Zulassungsverfahren für risikoarme und qualitativ hochwertige pflanzliche Arzneimittel. Sie bietet damit für die pharmazeutischen Unternehmen eine pragmatische und gleichzeitig rechtssichere Lösung und einen relativ schnellen Marktzugang zu vertretbaren Kosten. Zugleich ermöglicht sie eine EU-Harmonisierung für pflanzliche Arzneimittel.
In einem nächsten Schritt erscheint es sinnvoll, diesen Ansatz auf alle etablierten und gut dokumentierten OTC-Wirkstoffe auszuweiten, die über eine langjährige Anwendungshistorie und ein niedriges Risikoprofil verfügen – unabhängig davon, ob pflanzlicher oder chemisch-synthetischer Natur. Eine solche Traditional Medicinal Products Directive (TMPD) zur Registrierung von OTC-Arzneimitteln mit entsprechender Tradition und Anwendungssicherheit würde mehrere Vorteile mit sich bringen: Etablierte Kombinationen wären im OTC-Bereich wieder verstärkt möglich, vereinfachte Zulassungsverfahren würden ökonomische tragfähigere Bedingungen mit sich bringen, die Produkte hätten eine hohe Rechtssicherheit sowie eine verlässliche Verkehrsfähigkeit im Sinne des Arzneimittel-Status. Auch hätte eine TMPD, ähnlich wie die THMPD, ein hohes Internationalisierungs-Potenzial. Diese Weiterentwicklung der Traditional Herbal Medicinal Products Directive (THMPD) auf eine generelle Traditional Medicinal Products Directive (TMPD) wäre eine positive Entwicklung innerhalb der EU zur Stärkung des OTC-Arzneimittel-Status.