Der Bundestag wurde über den Auftrag an das BfR bereits im Frühjahr 2017 informiert. Das weitere Vorgehen wird einen Referentenentwurf für eine nationale Höchstmengenverordnung zur Diskussion mit Stakeholdern (Verbände etc.) vorsehen. Nach deren Stellungnahmen sollte es dann einen überarbeiteten Entwurf geben, der der EU-Kommission zur Notifizierung vorgelegt werden wird. Die EU-Kommission und andere Mitgliedsstaaten haben eine 3-monatige Frist zur Stellungnahme. Danach erfolgt eine Reaktion des BMEL und ein ordentliches Gesetzgebungsverfahren (z.B. angepasster Entwurf, Übergangsfrist). Der zeitliche Horizont lässt sich derzeit vor dem Hintergrund der schwierigen Regierungsbildung in Deutschland sowie einer neu zu besetzenden EU-Kommission in 2019 nur schwer fassen. Dass die EU-Kommission große Einsprüche geltend macht, ist eher unwahrscheinlich, da sie selbst ja eine Regelung auf nationaler Ebene propagiert.
Mit diesem Entwurf wird ein unverändert konservativer Ansatz verfolgt. In dem BfR-Modell werden die Höchstmengen überwiegend abgeleitet nach der einfachen Formel:
Ein Screening der derzeit vermarkteten Produkte zeigt, dass ein hoher Anteil von Produkten von der geplanten gesetzlichen Regelung betroffen wäre. Neben Rezepturänderungen käme es dabei auch zu Änderungen der Verpackungen (z.B. bei Pflichtangaben wie der Angabe der Deckung der Tageszufuhrempfehlungen), verbunden mit notwendigen veränderten Marketingkonzepten.
Vor einer Übernahme in eine gesetzliche Regelung wäre jedoch eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den vorgeschlagenen Werten zu begrüßen. Dies sollte auch die Betrachtung anderer Modelle wie des europäischen Höchstmengenmodells von 2014 für so genannte MSL-Werte (Maximum Safe Level) [2] sowie anderer nationaler Regelungen bzw. Vorschläge einschließen. So hat z.B. die französische Behörde DGCCRF Ende Januar 2018 neue Höchstmengenempfehlungen für Vitamine und Mineralstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln vorgeschlagen. Auch scheint der eingesetzte pauschale Sicherheitsfaktor „2“ für eine theoretisch mögliche Mehrfachverwendung mittlerweile für eine Ableitung von Höchstmengen nicht mehr angemessen. [3]
Ein Vergleich der BfR-Werte mit den europäischen Höchstmengenvorschlägen zeigt bei vielen Werten für Vitamine und Mineralstoffe und Spurenelementen teilweise erhebliche Abweichungen. So wird als Höchstwert für Vitamin C 250 mg genannt, während der europäische Vorschlag 1700 mg noch für sicher hält. Während bei Vitamin D ein Höchstwert von 20 µg (gegenüber dem europäischen Wert von 83,2 µg vernünftig erscheint (auch hinsichtlich einer Abgrenzung zu pharmakologischen Dosen bei Arzneimitteln mit Vitamin D), sollten die Werte bei Vitamin C und Vitamin E (30 mg in Deutschland, 270 mg in Europa) differenzierter betrachtet werden. Eine grundsätzliche Nichtzulässigkeit eines Zusatzes der Mineralstoffe Natrium und Chlorid ist nicht nachzuvollziehen, da diese unter Umständen durchaus eine ernährungsphysiologische Relevanz z.B. bei Nahrungsergänzungsmitteln für Sportler haben können.
Es stellt sich zudem die Frage, warum bei den BfR-Werten die Gruppe der 15-17jährigen miteinbezogen wurde.
Leider wurde die Pressemitteilung vom BfR benutzt, den Eindruck zu ermitteln, dass Nahrungsergänzungsmittel im Allgemeinen unnötig seien. Nach vorliegenden aktuellen Studien gibt es aber durchaus bei bestimmten Nährstoffen und Personengruppen suboptimale Versorgungszustände. Nach der Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS) als Teil des Gesundheitsmonitorings des Robert-Koch-Instituts (RKI) (veröffentlicht im 13. DGE-Ernährungsbericht 2016) [4] ist die Vitamin D-Versorgung für 56 % der älteren Personen nicht ausreichend. Die Folsäureversorgung ist bei etwa 95 % der Frauen im gebärfähigen Alter, für den Fall, dass sie schwanger werden, nicht adäquat. Ferner ist die Jodversorgung der Bevölkerung in Deutschland nach wie vor nicht zufriedenstellend; es besteht bei über 30 % der Menschen ein Risiko für eine unzureichende Jodzufuhr. Studien wie die Nationale Verzehrstudie II zeigen, dass die Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln hilft, diese Versorgungslücken schließen zu können. [5]
In einer jüngst veröffentlichten Studie (so genannte KORA-Studie) wurde die Versorgungslage von älteren Menschen (Alter 65 bis 93 Jahre) mit Vitaminen und Eisen anhand von Blutproben untersucht. Dabei wurde festgestellt, dass zum Teil erhebliche Teile der Probanden suboptimal versorgt waren (Vitamin D 52 %, Vitamin B12 27 %, Folsäure 9 %, Eisen 11 %). Die Wissenschaftler konnten auch in dieser Studie zeigen, dass die regelmäßige Einnahme von Supplementen die Versorgungslage in dieser Altersgruppe verbessert. [6] Damit hat die Zufuhr von Nahrungsergänzungsmitteln auch eine gesundheitspolitische Relevanz.
Bei aller Kritik, der sich diese neuen Werte im wissenschaftlichen und politischen Diskurs stellen müssen, darf nicht vergessen werden, dass das BfR hier ausschließlich die Sicherheit resp. das Risiko und nicht den etwaigen Nutzen für die Bevölkerung betrachtet hat. Wirtschaftliche Erwägungen, dass diese Werte, sofern sie gesetzlich verbindlich werden, einen höheren Aufwand für die Hersteller mit sich bringen und nicht die aktuelle Marktsituation widerspiegeln, spielen für eine Risikobewertung selbstverständlich eine untergeordnete Rolle.
Bei näherer Betrachtung erscheinen viele der vorgeschlagenen Werte ernährungswissen-schaftlich betrachtet als durchaus sinnvoll. Die oftmals marketinggesteuerte Zielrichtung im Sinne von „viel hilft viel“ hat z.B. bei Vitamin-D-Dosierungen in Nahrungsergänzungsmitteln zu einem unsinnigen (und gesundheitlich nicht unproblematischen) Wettbewerb geführt. Auch muss man eingestehen, dass die Ernährungswissenschaft sich in vielen Theorien und daraus entstandenen Konzepten geirrt hat. Die These von den Antioxidanzien („ACE-Produkte“) ist mittlerweile widerlegt [7], hohe isolierte Dosen können sogar negative Auswirkungen haben. Auch die Erwartungen, dass über die normalen Empfehlungen hinausgehende Folsäuremengen präventive Effekte auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen, neurodegenerative Krankheiten sowie krebspräventive Effekte haben, konnten bis dato nicht bestätigt werden. Aber auch Folsäure – so wichtig eine Supplementierung gerade auch durch die Aufnahme mit Nahrungsergänzungsmitteln sein kann – ist ein zweischneidiges Schwert, da höhere Mengen ein Gesundheitsrisiko beinhalten können. [8]
Daher stellt sich die Frage, ob sich nicht durch diese Höchstmengen die Chance bietet, diese mitunter unheilvolle Entwicklung zu durchbrechen.
Wem außer einigen wenigen globalen Rohstoffherstellern nutzen eigentlich die immer höheren Vitamin- und Mineralstoffmengen in einem Nahrungsergänzungsmittel? Im Zweifelsfall führt dies zu einer Verteuerung der Rezepturen und bei enormem Preisdruck bei den Endverbraucherpreisen letztlich auch zu geringeren Margen für die Hersteller.
Bei den meisten Vitaminen und Mineralstoffen wäre unter Einhaltung der vom BfR empfohlenen Höchstmengen auch weiterhin eine Auslobung von „100% Tagesbedarfsdeckung“ möglich. Dass die Empfehlungen der Tageszufuhrmengen (RDA bzw. NRV-Werte laut LMIV) auch „politische“ Werte (der EU) sind, die auch kontinuierlich dem Stand der Wissenschaft angepasst werden müssen, ist dabei ebenfalls zu beachten. Bei den Ausnahmen (wie u.a. Vitamin A, Eisen und Zink) ist dies aufgrund einer möglichen gesundheitlich gefährlichen Überdosierung nachvollziehbar. Auch für Health Claim-Auslobungen werden normalerweise weit geringere Mengen benötigt. Durch unnötig hohe Dosierungen kommen alle Nahrungsergänzungsmittel in Kritik. Dabei können diese in richtiger Dosierung angewendet bei bestimmten Personengruppen durchaus sinnvoll sein.
Ein Wettbewerb solcher intelligenter Nahrungsergänzungsmittel, die vielen Verbrauchern einen Nutzen bringen können, wäre allemal besser.