Stoffliche Medizinprodukte: Irrationale Überregulierung am Horizont

11.08.2015 | Dr. Guido Middeler
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Dr. Guido Middeler
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Nach einer vermeintlichen Ruhepause rückt die geplante EU-Verordnung für Medizinprodukte wieder auf die Tagesordnung. Auf die stofflichen Medizinprodukte wird dabei eine dramatische Erhöhung der regulatorischen Anforderungen zukommen, falls sich in den – voraussichtlich im Herbst 2015 anstehenden – Trilog-Gesprächen die Europäische Kommission und der Ministerrat gegenüber dem Europäischen Parlament durchsetzen. Dabei werden die angestrebten regulatorischen Anforderungen zu keinerlei Verbesserung der Qualität oder Patientensicherheit stofflicher Medizinprodukte führen. Patienten droht ein vollständiger Verlust etablierter Produkte und Therapiemöglichkeiten.

Im Herbst 2012 hatte die Europäische Kommission einen Vorschlag für eine neue Verordnung über Medizinprodukte (MDR) veröffentlicht. Er enthielt Bestimmungen für stoffliche Medizinprodukte, die einen negativen Einfluss auf die Verfügbarkeit von Therapiemöglichkeiten für Patienten haben würden, die den freien Handel beeinträchtigen und die Investitionen der betroffenen Unternehmen negativ beeinflussen. Und dies, ohne jedwede Verbesserung der Patientensicherheit.

Das Europäische Parlament hatte diverse Vorschläge der Kommission basierend auf umfassenden wissenschaftlichen Argumenten bereits zurückgewiesen. im Sommer 2015 hat sich auch der Ministerrat mit dem neuen Verordnungsentwurf befasst und eine eigene Position bekanntgegeben. Eine Gegenüberstellung der wichtigsten Positionen zu stofflichen Medizinprodukten:

 

Kommissions-Entwurf
(19.12.2012)

Europäisches Parlament
(04.04.2014)

Ministerrat
(19.6.2015)

Risikoklasse
(Anhang VII, Regel 21)

Alle Produkte „zur Einnahme, Inhalation oder zur rektalen oder vaginalen Verabreichung“ werden in Risikoklasse III eingestuft

Angesichts der bekannten Sicherheitsprofile ist eine obligatorische Umklassifizierung in die höchste Risikoklasse nicht gerechtfertigt

Verschärfung:  Ausweitung der Regel 21 auch auf Produkte die auf der Haut anzuwenden sind sowie Umklassifizierung sämtlicher Produkte der Risikoklasse I

Arzneimittelrechtliche Anforderungen
(Anhang I, 9.2)

Arzneimittelrechtliche Anforderungen gelten für alle Produkte „zur Einnahme, Inhalation oder zur rektalen oder vaginalen Verabreichung“

Aufgrund der Eigenschaften der in Frage stehenden Stoffe wären arzneimittel-rechtlichen Anforderungen gar nicht erfüllbar

Überprüfung der Erfüllung erweiterter grundlegender Anforderungen durch Arzneimittelbehörde, obgleich betroffene Produkte keine arzneilich wirksamen Stoffe enthalten.

Arzneiliche Wechselwirkungen
(Anhang VII, Regel 13)

Bei (auch nur theoretisch denkbarer) arzneilicher Wechselwirkung eines Bestandteils wird das Produkt in Risikoklasse III eingestuft (Entfall des Nebensatzes „which is liable to act on the human body“)

 

 

Stoffe tierischen Ursprungs
(Anhang VII, Regel 17)

Produkte mit Stoffen tierischen Ursprungs werden in Risikoklasse III eingestuft und unterfallen einer Doppel-Prüfung (MDR Art. 44 + Verordnung (EU) 722/2012)

 

 

Lebende Mikroorganismen
(Artikel 1, Abs. 2(f))

Ausschluss aller lebenden Mikroorganismen aus dem Geltungsbereich der Verordnung, unabhängig von der Wirkungsweise

Beachtung der Wirkungsweise ist erforderlich: physikalischen Effekte sind keine pharmakologische immunologische oder metabolische Wirkung gemäß der Leitlinie MEDDEV 2.1/3

Ausschluss aller lebenden Mikroorganismen aus dem Geltungsbereich der Verordnung, sofern sie zum Erreichen der Zweckbestimmung beitragen

Implementierende Rechtsakte
(Artikel 3)

Die Kommission wird ermächtigt, auf eigene Initiative Durchführungs­rechtsakte zu erlassen die festlegen, ob Produkte Medizinprodukte sind

Kommission soll die Meinung von „Medical Device Coordination Group“ und „Medical Device Advisory Committee“ berücksichtigen  (beide neu zu schaffen)

Meinung der „Medical Device Coordination Group“ und der angemessene Rechtsrahmen sollen berücksichtigt werden. Rolle der Industrie bleibt offen.

Der Vorschlag  des Ministerrats wird Gegenstand des im September 2015 startenden informellen Trilogs zwischen Kommission, Parlament und Ministerrat sein. Ziel der Triloggespräche ist es, einen sowohl für das Europäische Parlament als auch für den Rat tragfähigen Text zu vereinbaren, der dann ohne weitere Verhandlungen von beiden Organen in zweiter Lesung angenommen werden soll. Der Kommission kommt dabei in erster Linie eine moderierende Funktion zu.

Ein kohärenter Rechtsrahmen wird die Grundsätze des so genannten „New Approach“ erfüllen müssen, die Herstellerinteressen berücksichtigen und dem Anspruch der Patienten auf hohe Produktsicherheit genügen. Patientensicherheit wird dabei regelmäßig als Hauptgrund für steigende Anforderungen an Medizinprodukte angeführt. Allerdings müssen die so begründeten Anforderungen auch tatsächlich und überprüfbar der Patientensicherheit dienen – und dürfen nicht allein auf subjektiven Meinungen und politischer Interessen beruhen. Bei den oben genannten Punkten ist diese Zielvorgabe mindestens zweifelhaft.

Die Kombination der gesetzgeberischen Ziele aus „New Approach“, Herstellerinteressen, Produktsicherheit und Patientensicherheit kann gelingen. Dafür müssen im weiteren Gesetzgebungsverfahren aber folgende Vorschläge berücksichtigt werden:

Risikoklasse: Der Vorschlag des Europäischen Parlaments ist sinnvoll, d.h. Regel 21 sollte aus der Medizinprodukteverordnung gestrichen werden. Die obligatorische Umklassifizierung stofflicher Medizinprodukte in Risikoklasse III ist wissenschaftlich nicht begründbar.

Von 2009 bis heute wurde trotz der regelmäßigen Anfragen von Industrieverbänden kein einziger bestätigter Vorfall mit stofflichen Medizinprodukten von der Kommission und den Mitgliedstaaten im Rahmen der Arbeitsgruppe für Borderline & Classifikation unter Vorsitz der Generaldirektion Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (DG SANTE, vormals DG SANCO) vorgestellt. Dies ist nicht überraschend, wenn man die Eigenschaften der betreffenden Stoffe und ihre gut bekannten Sicherheitsprofile betrachtet: Lutschtabletten haben nicht das gleiche Risikoprofil wie Herzkatheter.

Arzneimittelrechtliche Anforderungen: Der Vorschlag des Europäischen Parlaments zur Streichung von Anhang I, Absatz 9.2 MDR ist sinnvoll. Mindestens sollte die Anwendung arzneimittelrechtlicher Anforderungen aber auf Stoffe und ihre Stoffwechselprodukte begrenzt werden, die zur Erreichung ihrer Zweckbestimmung absorbiert werden müssen.

Arzneiliche Wechselwirkung: Die bisherige Klassifizierungsregel 13 aus Anhang VII, Richtlinie 93/42/EWG sollte beibehalten werden: „All devices incorporating, as an integral part, a substance which, if used separately, can be considered to be a medicinal product, as defined in Article 1 of Directive 2001/83/EC, and which is liable to act on the human body with action ancillary to that of the devices, are in Class III.“ Die von Kommission und Ministerrat geplante Streichung des Nebensatzes „which is liable to act on the human body“ würde andernfalls bedeuten, dass Produkte bei jeder auch nur theoretisch denkbaren arzneilichen Wechselwirkung in Klasse III fallen und arzneimittelrechtliche Anforderungen erfüllen müssen. Dazu zwei Beispiele:

  • Citrat-Lösung in Blutkonserven zur Vermeidung der Verklumpung von Blutplättchen. Das Citrat im Produkt wird vor der Reinfusion in den Patienten blockiert – kann also gar keine unterstützende arzneiliche Wirkung auf den menschlichen Körper haben.
  • Isländisch Moos, kann zusätzlich zur – als physikalischem Effekt anerkannten – Schutzschleimwirkung in Lutschtabletten bei Halsbeschwerden auch eine leicht antibakterielle Wirkung haben. Für diese Wirkung ist gemäß Arzneimittel-Monographie jedoch eine Dosierung erforderlich, die um Faktor 10 über der typischen Konzentration in Halstabletten liegt. In solchen Medizinprodukten zielt Isländisch Moos allein auf die physikalische Schutzschleimwirkung. Eine arzneiliche Wirkung ist nicht intendiert und wird auch nicht erreicht.

Die geplante Änderung würde für diese Produkte also einen erheblichen regulatorischen Mehraufwand bedeuten – ohne dass dabei ein Mehrwert erkennbar wäre.

Stoffe tierischen Ursprungs: Die Klassifizierungsregel 17 sollte geändert werden, so dass Medizinprodukte mit Stoffen tierischen Ursprungs in Klasse IIb eingestuft werden, soweit die Anforderungen der Verordnung 722/2012 bereits erfüllt sind.

Der Vorschlag der Kommission aus dem Jahr 2012, mit der Medizinprodukteverordnung Stoffe tierischen Ursprungs in Klasse III einzustufen, diente dem Schutz vor der „Transmissiblen Spongiformen Enzephalopathie“ (TSE). Seit August 2013 ist jedoch bereits die EU-Verordnung 722/2012 in Kraft. Seither müssen die Benannten Stellen für betroffene Medizinprodukte eine Konsultation aller europäischen Mitgliedstaaten in Bezug auf das TSE-Risiko durchführen. Das geplante zweite europäische Bewertungsverfahren des TSE-Risikos bringt daher keinen zusätzlichen Nutzen mehr.

Lebende Mikroorganismen: Die Position des Europäischen Parlaments solle befolgt werden. Lebende Mikroorganismen wären nur dann aus dem Geltungsbereich der Medizinprodukteverordnung auszuschließen, wenn sie ihre intendierte Zweckbestimmung mit pharmakologischen, immunologischen oder metabolischen Wirkungen erzielen.

Implementierende Rechtsakte: Der Vorschlag des Ministerrates gemäß Art. 3, Abs. 1 und 2 ist sinnvoll, sofern dieser konsistente Ansatz nicht konterkariert wird durch den Abs. 1a. Selbiger wäre folgerichtig zu streichen! Denn eigeninitiative Entscheidungen der Kommission und ohne objektive Beurteilung würden sich gegen den so genannten "New Approach" wenden und gegen das Grundrecht auf freien Warenverkehr. Hersteller hätten keine Rechtssicherheit für ihre Innovationen oder Investitionen. Hinsichtlich der Zusammensetzung der geplanten MDCG wäre zudem die Einbindung von Experten-Know-how aus der Industrie zielführend.

Die Berücksichtigung dieser sechs Punkte würde sichere stoffliche Medizinprodukte gewährleisten und zugleich Bürokratiekosten ohne erkennbaren Zusatznutzen vermeiden. Damit können auch in Zukunft stoffliche Medizinprodukte als erwiesen sichere Therapieoptionen zu vertretbaren Preisen für die Bürger Europas bereitstehen.

Ein ausführlicher Fachbeitrag von mir zu diesem Thema erscheint in der August-Ausgabe des MPJ - Medizinprodukte Journal, Nr. 3/2015, S. 226 - 230

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